Gerichtsmedizinerin Andrea Berzlanovich verbindet ihre Arbeit mit sozialen, oft tabuisierten Anliegen wie häusliche Gewalt oder Gewalt gegen alte Menschen: "Opfer von Gewalt sollten nicht umsonst ums Leben gebracht worden sein – wir sollten von ihnen lernen, daraus Schlüsse, besonders für die Prävention, ziehen und diese dann auch konkret anwenden."

Foto: privat

Wie ausgestorben lag noch vor kurzem der alte, mit kaltem Stahl ausgekleidete Seziersaal am Wiener Department für Gerichtsmedizin da. Handwerker hämmerten und lärmten, feiner Staub überzog die kahlen, schmucklosen Gänge. Jetzt bereichert ein neuer, modern ausgestatteter Untersuchungsraum das Institut in der Sensengasse: Nach zweijähriger Unterbrechung wurde das frisch renovierte Department im Juli offiziell wiedereröffnet. Im obersten Stockwerk des Hauses liegt das Büro von Andrea Berzlanovich. Seit mehr als 20 Jahren übt sie ihren Beruf mit Hingabe und Überzeugung aus. "Gerichtsmedizinerin zu werden war schon mein Kindheitstraum", erzählt die Pionierin. "Meine Eltern haben diesen Wunsch von Anfang an unterstützt, mich behutsam in das Thema Tod eingeführt, mir bewusst gemacht, dass der Tod zum Leben gehört. Nur die Volksschullehrerin war schockiert", lacht sie.

Angst vor dem Tod habe Andrea Berzlanovich nie gehabt. Durch ihren Vater, von Beruf Tierarzt, sei sie schon früh mit dem Sterben von Tieren konfrontiert gewesen; ihre erste menschliche Leiche habe sie als Kind im Burgenland gesehen: "Es war dort selbstverständlich, dass Verstorbene zu Hause aufgebahrt werden. Ich habe das nie als schrecklich empfunden, im Gegenteil: Als meine Urgroßeltern starben, war es beruhigend, sie noch einmal zu sehen und mich von ihnen verabschieden zu dürfen."

Zwischen Sezier- und Gerichtssaal

Schon bald gesellte sich Neugierde hinzu: "Ich habe mich schon als Kind immer gefragt, wieso jemand überhaupt stirbt, besonders bei jüngeren Menschen. Freunde meiner Eltern waren Pathologen, die haben mein Interesse daran geweckt, in den Körper hineinzuschauen und festzustellen, was die Ursache für das Sterben sein kann." Seit Beginn ihrer Arbeit als Gerichtsmedizinerin hat Andrea Berzlanovich bereits über 12.000 Leichen obduziert. Die Durchführung sanitätspolizeilicher und gerichtlicher Obduktionen gehört zum Hauptaufgabengebiet von GerichtsmedizinerInnen; zusätzlich erstatten sie als Sachverständige bei Gericht mündliche und schriftliche Gutachten, die oft entscheidend für den Verfahrensausgang sind. "Forschung und Lehre sind weitere wesentliche Bereiche in meinem Berufsalltag", so die Uni-Professorin.

Natürliche und gewaltsame Todesfälle wie Unfälle, Selbstmord oder Tötungsdelikte sind Aufgaben, die von GerichtsmedizinerInnen bei der Obduktion geklärt werden müssen. Es drehe sich bei ihrer Arbeit aber nicht alles nur um Tote, sagt Berzlanovich: "Im Fernsehen wird unser Beruf immer so dargestellt, als hätten wir nur mit Leichen zu tun. Wir untersuchen aber auch lebende Verunfallte, Opfer von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt und gelegentlich Beschuldigte." Oft seien die unspektakulären Todesfälle, „wo man nicht auf den ersten Blick sieht, woran jemand gestorben ist", die größere Herausforderung. Aber auch, wenn die Todesursache klar erscheint, zum Beispiel bei Erschossenen, seien viele Detailfragen zu klären, etwa "wie viele Schüsse das Opfer getroffen haben oder ob es überlebt hätte, wenn ärztliche Hilfe herbeigerufen worden wäre".

Wettlauf mit der Zeit

Die Obduktion nach einem Lokalaugenschein sei oft ein Wettlauf mit der Zeit, den unnatürlichen Todesfall zu klären, denn: "Jede Stunde, die länger benötigt wird, gibt dem allfälligen Täter oder der Täterin Vorsprung; aber auch jede Stunde, die wir früher wissen, dass es doch kein Tötungsdelikt, sondern ein Unfall oder Suizid war, spart der Polizei viel an Aufwand und Folgekosten." Die kollegiale Zusammenarbeit mit der Polizei schätzt Andrea Berzlanovich sehr: "Es ist oft wie ein Puzzlespiel, eine Tat dingfest zu machen: Ohne die Hintergrundinfos, die uns die Polizei gibt, würden wir meist im Dunkeln tappen und unsere Erkenntnisse helfen wiederum den Ermittlungsbeamten weiter." Werden etwa am Körper der Leiche Abdrücke von Schuhprofilen entdeckt, wird der oder die Beschuldigte im Verhör gefragt, ob er oder sie das Opfer getreten hat. "Unser Beitrag ist es, die Steinchen im Mosaik zusammenzutragen; die vielfältigen Aufgaben können nur in guter Teamarbeit gelöst werden, das macht für mich den besonderen Reiz an meinem Beruf aus."

Stahlbeton statt Gläserner Decke

2005 habilitierte Andrea Berzlanovich als erste Frau in Österreich im Fach Gerichtliche Medizin. "Das war eine kleine Sensation." Die Decke, die sie damit durchstoßen hat, "war nicht aus Glas, sondern aus Stahlbeton", weil sie sich in ihrer Forschungsarbeit mit Themen auseinandersetzt, die ihr durch ihre soziale Ader am Herzen liegen, aber – besonders bei Männern – in der Gerichtsmedizin nicht gängig sind: "Ich verbinde meine Arbeit mit sozialen, oft tabuisierten Anliegen, die keine große Lobby haben, wie häusliche Gewalt oder Gewalt gegen alte Menschen. Nur perfekte Gutachten zu erstellen ist mir nicht genug: Opfer von Gewalt sollten nicht umsonst ums Leben gebracht worden sein – wir sollten von ihnen lernen, daraus Schlüsse, besonders für die Prävention, ziehen und diese dann auch konkret anwenden." Der Fachbereich Gerichtsmedizin sei nach wie vor männerdominiert, "aber ich habe gelernt, meine Anliegen mit großem Engagement zu artikulieren, nach außen zu tragen und sichtbar zu machen. Mittlerweile werde ich als Expertin im In- und Ausland gehört und konsultiert."

Von 2005 bis 2007 war Andrea Berzlanovich am Institut für Rechtsmedizin in München tätig. 24-Stunden-Einsätze auf Abruf gehörten dort zur Regel. "Es waren wertvolle Erfahrungen, die ich nicht missen möchte und ich habe einen großen Fundus für die Forschung und Praxis mit nach Wien gebracht. Zusätzlich zu meiner wissenschaftlichen Tätigkeit und zur Lehre habe ich dort auch andere Arbeiten geleistet, von Obduktionen über Untersuchungen von Verkehrssünderinnen und -sündern bis zu Gerichtsverhandlungen."

Prävention vor Obduktion

Zurzeit widmet sich Andrea Berzlanovich verstärkt ihren sozialen Anliegen. "Mein Herz schlägt noch immer für die Toten, aber nachdem ich in München tausende Obduktionen durchgeführt hatte, wollte ich mich wieder mehr der Lehre und Forschung widmen." Vornehmlich beschäftigt sie sich derzeit mit Untersuchungen an körperlich und/oder sexuell Misshandelten, mit der Bearbeitung der Auswirkungen von physischer Gewalt im häuslichen Umfeld sowie mit der gesundheitlichen Versorgung gewaltbetroffener Frauen. Dazu hat sie auch an der Erstellung von zwei Leitfäden mitgewirkt*; mit dem Verein der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser und der Interventionsstelle gegen Gewalt arbeitet sie eng zusammen. "Wenn es gelingt, über die Obduktion zur Prävention zu gelangen, ist sehr viel erreicht. Dabei ist mir vor allem die Verbesserung der Beweis- und Spurensicherung bei der ärztlichen Untersuchung von Gewaltbetroffenen sowie der gut organisierte und hilfreiche Umgang mit Opfern sehr wichtig."

Spurensicherung

In Deutschland habe es sich bewährt, dass alle Delikte wie Körperverletzungen oder sexualisierte Gewalt zunächst in der Gerichtsmedizin untersucht werden, sofern sie polizeibekannt sind, schildert die Expertin: "Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, müssen dort wie auch hier in Österreich nicht gleich bei der Polizei Anzeige erstatten, was ja oft mit einer mentalen Barriere verknüpft ist, sondern sie können zu uns ans Institut kommen, um sich untersuchen und mögliche biologische Spuren sichern zu lassen. Das gewonnene Material wird ein Jahr lang aufgehoben und in dieser Zeit können sich die Opfer – 99,9 Prozent sind Frauen – überlegen, ob sie eine Anzeige machen wollen oder nicht. Wenn ja, kann die Staatsanwaltschaft anordnen, dass die Spuren untersucht werden." Das Angebot werde noch nicht stark genutzt, "aber wir bemühen uns gemeinsam mit den Frauenhäusern und der Interventionsstelle, diese Hilfestellung noch bekannter zu machen."

Im Einsatz für alte Menschen

Ihre Erfahrungen aus Forschung und Praxis in der Gerichtsmedizin gibt Andrea Berzlanovich in Vorlesungen und Seminaren an der Medizinischen Universität Wien sowie in Schulungen an außeruniversitären Einrichtungen im In- und Ausland weiter.

Ein weiterer Schwerpunkt von Berzlanovichs Arbeit ist die "Forensische Gerontologie". Diese befasst sich mit der Problematik von Gewalt gegen alte Menschen, mit deren Vernachlässigung in der häuslichen und institutionellen Pflege, die immer wieder auch zum vorzeitigen Tod führt. "Seit Jahren bin ich mit verschiedensten Formen von Gewalt gegen alte Menschen, speziell in Pflegesituationen, konfrontiert. Dieser tabuisierte Problembereich hat mich schon zu Beginn meiner Ausbildung beschäftigt." Für ihre Studien zu diesem Thema, dem sie sich auch in ihrer Habilitation widmete, hat die Uni-Professorin zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, sie hält Vorträge in Alten- und Pflegeheimen und bemüht sich um Aufklärung des Pflegepersonals. Die simple Diagnose "Tod durch Altersschwäche" lässt sie nicht gelten: "Es gibt immer einen konkreten Grund, warum jemand stirbt, auch alte Menschen haben ein Recht auf eine Todesursache."

Verstehen, was uns die Toten sagen

Wie geht sie persönlich damit um, tagtäglich mit Opfern von Gewalt konfrontiert zu sein? "Ich habe eine selbstschützende gesunde Distanz und einen pragmatischen Zugang dazu entwickelt. Bei Leichen sehe ich eine Hülle vor mir, ähnlich einem Schmetterling, der sich verpuppt, wegfliegt und dessen Kokon zurückbleibt: Ich schaue, was diese Hülle füllt, was mir der oder die Tote sagt." Sentimentales Mitgefühl müsse zurückstehen, denn: "Ich glaube, dass das Bemitleiden der Opfer, egal ob tot oder lebendig, nicht hilfreich ist. Sehr wohl hege ich aber Empathie: Ich möchte immer das Beste für das Opfer leisten und das gelingt mir, indem ich die Untersuchung sehr akribisch durchführe, versuche, nichts zu übersehen, Spuren sichere, mir die nötigen Fragen stelle, interpretiere und zu einem wohl überlegten Schluss komme." Jeder Mensch "in seiner tödlichen Verletzbarkeit" sei für sie "trotz oder wegen der vielen obduzierten Leichen" ein Einzelschicksal: "Hinter jeder und jedem Toten und Verletzten steht eine eigene Geschichte."

"Konkurrenz" CSI

Viel Herzblut legt Berzlanovich auch in die Betreuung der Studierenden. Deren Mentoring sowie realistische Vorbereitung für ein verantwortungsvolles Wirken in der Gerichtsmedizin seien ihr sehr wichtig: "Ich hinterfrage gerne die Gründe, warum jemand diesen Beruf ergreifen möchte. Nur die Arbeit im Fernsehen gesehen zu haben, ist zu wenig." Stellen in der Gerichtsmedizin seien nach wie vor rar, die Nachfrage aber steige, besonders seit dem Start von Serien wie "CSI", "Samantha Ryan" oder "Crossing Jordan": "Im Fernsehen wird unser Beruf glorifiziert. Wir sind noch nicht so 'perfekt' wie unsere TV-Kolleginnen und -kollegen – aber wir arbeiten daran!", lacht die engagierte Fachfrau.

Natürlich nehme sie, wie Menschen in anderen Berufen auch, ihre Arbeit immer wieder auf Papier und im Geiste mit nach Hause. Ausgleich zum Job findet sie zum Beispiel beim Laufen, wo sie auch ihren Gedanken freien Lauf lässt und gerne Ideen zur Vortragsgestaltung weitertüftelt.

"Der Tod ist mein Brot"

Auch der Humor spiele in der Gerichtsmedizin eine Rolle, um das Ges(ch)ehene zu verdauen: "Bei uns geht nicht immer alles todernst zu, das hilft, manches besser wegzustecken. Was aber den Umgang mit Leichen und Angehörigen betrifft, da sind wir sehr rücksichtsvoll. Neben einer Leiche zu essen oder ihr Spaßnamen zu geben, wie man es manchmal in Serien sieht, ist pietätlos, so was machen wir nicht. Auch, wenn wir Gerichtsmedizinerinnen und -mediziner in gewisser Weise abgebrüht sind: Leichen muss man mögen, der Tod ist mein Brot." (Isabella Lechner/dieStandard.at, 9.8.2010)