Eine Frau mit zwei Kindern. 
Die gesellschaftlichen Ansprüche kollidieren oft mit feministischen Ansprüchen, sagt Samira Baig.
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Der Plan für ein selbstbestimmtes Leben war geschmiedet, und die feministischen Ansprüche waren groß. Doch dann kam mit den Kindern doch alles anders. Die Verhandlungen mit dem Partner über gleichberechtigte Elternschaft scheiterten, die eigenen Wünsche waren nach intensiver Fürsorgearbeit kaum noch wahrnehmbar. Die Soziologin Samira Baig hat sich in einer qualitativen Untersuchung angesehen, was für Frauen feministische Mutterschaft bedeutet und welche Ambivalenzen sie mit sich bringt.

STANDARD: Es gibt heute nicht mehr ganz so stark den Anspruch, Mutterschaft immer schön finden zu müssen. Inzwischen wird auch viel über die damit verbundenen Benachteiligungen gesprochen. Geht das auch schon in Richtung feministischer Mutterschaft?

Baig: Ja, ich habe auch den Eindruck, dass sich in Bezug auf Mutterschaft etwas bewegt. Das Benennen von Benachteiligungen bzw. das Entgegenwirken dieser kann durchaus als feministisch, im Sinne von emanzipatorisch, gewertet werden. Dennoch gibt es kein feministisches Gegenkonzept zur Mutterschaft. Es gibt eine Reihe von Studien, die zwar ein Gleichberechtigungsstreben bei heterosexuellen Paaren bestätigen, doch ab dem Zeitpunkt, an dem Kinder ins Spiel kommen, sind deutliche Retraditionalisierungstendenzen zu beobachten. Mich hat interessiert, was feministische Mutterschaft ist. Bedeutet feministische Mutterschaft schon, wenn die Mutterschaft selbst gewählt ist, oder erst, wenn auch den damit einhergehenden Einschränkungen entgegengewirkt wird? Aber was ist, wenn ich mich bewusst dafür entscheide, zu Hause beim Kind zu bleiben? Ist das schon feministisch im Sinne von selbstbestimmt?

STANDARD: Die Fürsorge für Kinder ist also der Knackpunkt zwischen Mutterschaft und Feminismus?

Baig: Ja, durchaus. In meiner Studie zu Mutterschaft und Feminismus hat sich die Begrifflichkeit des Mutterseins als wesentlich herausgestellt. Während feministische und gendertheoretische Forschungsstränge Mutterschaft als Institution mit all den damit einhergehenden Erwartungen, Normen, Werten und Idealen bezeichnen, benennt Muttersein die Tätigkeiten des Kinderaufziehens. In diesem Sinne hat sich auch in meiner empirischen Arbeit gezeigt, dass die Anforderungen des Mutterseins, auch des feministischen Mutterseins, sich aufgrund des Daseins eines Kindes ergeben. Fürsorge stellt einen wesentlichen Aspekt der Institution Mutterschaft dar, und in diesem Sinne war es auch interessant zu beobachten, wie dieser durch feministische Konzepte des Mutterseins begegnet werden kann.

STANDARD: Was bedeutete nun für die von Ihnen interviewten Frauen feministische Mutterschaft bzw. feministisches Muttersein?

Baig: Ich habe politisch aktive Feministinnen interviewt und mir angesehen, woran sich ihre Erzählungen über Alltagsereignisse orientieren. Mich hat interessiert, wie sie der Institution Mutterschaft begegnen, mit all ihren Anforderungen, wie sie feministisches Muttersein leben, welche gesamtgesellschaftlichen Bewertungen über Mutterschaft sie übernehmen und welche feministischen Strategien sich finden lassen, dieser etwas entgegenzusetzen. Auf Basis der Schilderungen habe ich drei Konzepte herausgearbeitet: das kindzentrierte, das umstandsorientierte und das integrierte Konzept des Mutterseins.

Es fehlt ein Diskurs, wie man die Fürsorgearbeit angesichts der wachsenden Ansprüche verteilt, sagt Samira Baig.
Es fehlt ein Diskurs, wie man die Fürsorgearbeit angesichts der wachsenden Ansprüche verteilt, sagt Samira Baig.
privat

STANDARD: Und wie unterscheiden sich diese Konzepte?

Baig: Beim kindzentrierten gab es eine starke Priorisierung des Kindes. Es zeigte sich in den Erzählungen ein Spannungsfeld zwischen den mehrheitsgesellschaftlichen Ansprüchen von Mutterschaft, feministischen Ansprüchen, diesen zu begegnen, und das in Kombination oder im Widerstreit, je nachdem, mit den eigenen Interessen und Bedürfnissen und jenen des Kindes. Dieses Spannungsfeld schlug sich auf individueller Ebene als innere Konflikte nieder, die den Alltag begleiteten und sich als eine wesentliche Belastung herausstellten, die in einzelnen Fällen in Erschöpfungszuständen mündeten. Damit zeigt sich auch eine Gefahr der Individualisierung, denn es ist anstrengend, individuell zu versuchen, gesellschaftlichen Normierungen entgegenzuwirken.

Beim umstandsorientierten Konzept orientieren sich die Erzählungen der Mütter an den veränderten Umständen durch Mutterschaft. Das Muttersein bringt Situationen mit sich, die sich ganz maßgeblich von jenen unterscheiden, die das Leben vor dem Muttersein begleiteten. Die Frauen agieren immer wieder aus schlechten Emotionen heraus, Emotionen wie Sich-alleingelassen- oder Sich-ausgeliefert-Fühlen. Doch darin liegt auch Potenzial, denn vor allem jene Erzählungen von Ereignissen, die mit emotionalen Herausforderungen einhergingen, waren begleitet von Nachreflexionen. Und diese waren wiederum durchgängig geprägt von Erkenntnissen, wie den schwierigen Umständen des Mutterseins begegnet hätte werden können und zukünftig begegnet werden kann.

Und beim integrierten Konzept hat sich bei den Müttern keine Priorisierung der Mutterschaft gezeigt. Die Erzählungen hier orientierten sich durchgängig daran, dass das Leben Erfordernisse und Anforderungen mit sich bringt, denen es zu begegnen gilt. Das Muttersein stellt einen Bereich diesbezüglich dar – ebenso wie Berufstätigkeit, politischer Aktivismus, Selbstverwirklichung oder Partner:innenschaft.

STANDARD: Dann ist Letzteres die "wahre" feministische Mutterschaft?

Baig: Das will ich gar nicht beurteilen, aber womöglich hat es für eine Reihe von Frauen etwas Verlockendes, sich vorzustellen, wie das Muttersein integriert in sämtliche Lebensbereiche gelebt werden kann, ohne den Eindruck zu haben, diesem immer wieder Vorrang geben zu müssen.

STANDARD: Welche Themen zogen sich bei allen Frauen durch?

Baig: Bei allen gab es vereinzelt Erzählungen, in denen das Kind und seine Befindlichkeit im Zentrum standen und die Mutter die eigenen Interessen zurückstellte oder es zumindest ernsthaft erwog, zumindest kurzfristig. Selbst im Rahmen des integrierten Konzeptes des Mutterseins gab es eine entsprechende Schilderung. Gesamtgesellschaftliche Fürsorgedynamiken und Verantwortlichkeiten der Institution Mutterschaft sind durchaus wirkmächtig und beschäftigen Mütter. Heute ist es zwar einerseits selbstverständlich, dass Frauen berufstätig sind oder gar sein müssen und sich auch außerhalb vom Job selbst verwirklichen – trotzdem spielt für sie die Kinderfürsorge noch immer eine große Rolle. Gleichzeitig zeigt eine Reihe von Studien, dass die Standards hierbei deutlich höher wurden. Was fehlt, ist ein Diskurs, wie man die Fürsorgearbeit angesichts der wachsenden Ansprüche verteilt.

STANDARD: Inwiefern schlägt sich feministisches Muttersein im Alltag der Mütter nieder?

Baig: Eine feministische Grundhaltung kann dazu führen, dass eine Reihe von Ambivalenzen auftauchen. Die gesellschaftlichen Ansprüche kollidieren mit feministischen Ansprüchen. Deshalb sind die Frauen immer wieder mit Reflexion beschäftigt und müssen sich immer wieder positionieren – das kann mitunter als Anstrengung empfunden werden.

Ein Beispiel, das wohl viele kennen: Das Kind könnte zwar länger in der Betreuung bleiben, aber man möchte es schon abholen. Gleichzeitig sagt man sich, Moment, ich könnte diese Zeit auch für mich nutzen, weil das Kind schließlich gut aufgehoben ist. Vor allem in den Erzählungen des kindzentrierten Konzepts des Mutterseins gab es diese Reflexionsarbeit. Etwa dass einerseits unterschiedliche Umwelten gut für das Kind sind und nicht nur eine Fixierung auf die Mutter-Kind-Beziehung – und man auch Zeit für sich selbst braucht.

Samira Baig,
Samira Baig, "Mutterschaft und Feminismus – Eine Studie zu Konzepten feministischen Mutterseins 2023". € 38,– / 265 Seiten, Budrich Academic Press, 2023.
Budrich Academic Press

STANDARD: Ist demnach feministisches Muttersein mit Arbeit am Umgang mit sich selbst verbunden?

Baig: Viele feministische Theorien betrachten Mutterschaft als Institution kritisch, weil Mutterschaft mit Idealen einhergeht, wie Kindererziehung von Müttern zu erfolgen hat.

Die Konzepte feministischen Mutterseins zeichnen sich dadurch aus, dass es ein Bewusstsein darüber gibt, dass es Alternativen bei der Ausgestaltung von Mutterschaft gibt. Dass man sich überlegt: Einige Anforderungen übernehme ich, andere nicht, andere deute ich um bzw. stellen sich als eigene Ansprüche dar. Und in dem Moment, wo ich etwas als Normierungsprozess entlarve, kann man sich überlegen: Was will ich, wie will ich agieren? In meinen Interviews sahen die Frauen durchgehend Alternativen, den Anforderungen zu begegnen, was schlussendlich Freiheitsgrade und mehr Handlungsspielräume für die Mütter eröffnete.

STANDARD: Wer setzt sich mit feministischer Mutterschaft auseinander? Ist es ein Privileg, sich damit beschäftigen zu können?

Baig: In Bezug auf Bildung womöglich ja. Ich hatte ausschließlich Interviewpartnerinnen, die Matura und/oder höhere Bildungsabschlüsse haben. Womöglich hat das damit zu tun, dass viele Frauen erst später mit Feminismus, feministischen Theorien und feministischen Bewegungen in Berührung kommen. In den Schulen waren diese Themen, zumindest in meiner Generation, kein Thema. Ich denke, das hat sich kaum verändert.

STANDARD: Wie könnte Feminismus und Mutterschaft enger verzahnt werden?

Baig: Wenn wir es wirklich schaffen würden, die Dekonstruktion von Geschlecht auch bei Mutterschaft konsequent zu denken. Schlussendlich ist Mutterschaft noch immer stark mit traditionellen Werten von "Weiblichkeit" und mit Cis-Frauen verbunden.

Wenn wir einen Begriff finden würden, der nicht an heteronormative Zweigeschlechtlichkeit gebunden ist, dann müssten wir womöglich stärker gesellschaftlich ausverhandeln, wie denn gute Kinderversorgung und Kinderbegleitung zu denken ist, ohne dass diese zwingend an eine gesellschaftliche Gruppe, an Cis-Mütter, gekoppelt ist. (Beate Hausbichler, 26.9.2023)