Junge Frau am Computer. 
In digitalen Diskussionen müsste verhindert werden, dass Einzelne oder eine bestimmte Gruppe den Diskurs dominieren, sagt Claudia Wilhelm.
IMAGO/MASKOT

Claudia Wilhelm forscht zu den Folgen der gesteigerten Sichtbarkeit von Gender im digitalen Raum. Ihr Fokus liegt dabei auf politischer Kommunikation und Hassrede, für die populistische rechte Parteien oft einen Nährboden bereiten.

STANDARD: Was ist Hatespeech, also Hassrede, genau?

Wilhelm: Hatespeech wird subjektiv unterschiedlich wahrgenommen. Wenn es einfach darum geht, dass soziale Normen verletzt werden oder es eine unangemessene Wortwahl, Beschimpfung, vulgäre Sprache ist – dann sprechen wir in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung von Inzivilität.
Hatespeech sind Aussagen, die bestimmte soziale Gruppen oder ihre Mitglieder beleidigen, diskriminieren oder bedrohen. Wenn Personen oder Gruppen beispielsweise aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Ethnizität oder ihrer Religion angegriffen werden. Das schließt auch falsche Gerüchte und Verschwörungstheorien ein, die über diese sozialen Gruppen verbreitet werden.

Es geht bei Hatespeech auch darum, diese Gruppen zum Schweigen zu bringen. Dass sie sich zurückziehen in andere Räume, die weniger öffentlich und auch homogener sind. In sozialen Medien zeigt sich, dass zum Beispiel rechte populistische Parteien durch Agitation, Hetze und Verbreitung von Gerüchten einen Nährboden für Hatespeech bereiten. Das heißt nicht, dass sie selbst Hassrede im engeren Sinne verwenden. Also keine Aufrufe zu Gewalt oder Gewaltandrohungen, aber sie bedienen Narrative, die Hatespeech fördern, und im Zuge dessen tauchen Diskriminierungen und Beleidigungen auf.

Kommunikationswissenschafterin Claudia Wilhelm.
Konfrontative Debatten bedeuten nicht immer gleich Hassrede, sagt Claudia Wilhelm.
Theresa Köhler / Universität Erfurt

STANDARD: Gelingt dieses Zum-Schweigen-Bringen"?

Wilhelm: Wir sehen, dass die öffentlich sichtbare Teilhabe von Frauen an politischer Onlinepartizipation geringer ist, zum Beispiel wenn es darum geht, Kommentare zu schreiben. Wir haben eine Studie zu Social-Media-Engagement mit sogenannter Anti-Gender-Hatespeech, also Hassrede, die beispielsweise Sexismus, Homophobie oder Antifeminismus beinhaltet, durchgeführt. Da ging es darum, inwiefern teilen, liken oder kommentieren Nutzer:innen solche Inhalte oder melden sie als unangemessen.

Frauen teilen solche Inhalte weniger als Männer, sie liken sie weniger, sie kommentieren und melden sie aber auch weniger oft als Männer. Natürlich ist es auch themenabhängig, wie stark Nutzer:innen reagieren. Wir sehen zum Beispiel in Deutschland eine geringere Akzeptanz für homophobe Posts als in Ungarn. Und es macht einen Unterschied, ob sich eine Politikerin oder ein Politiker äußert oder unbekannte Nutzer:innen. Politiker:innen lösen tendenziell mehr Engagement aus.

STANDARD: Geschlechterpolitische Themen sind heute präsenter als noch vor zehn Jahren. Ist Hatespeech eine Reaktion darauf?

Wilhelm: Wir sehen, dass sich in digitalen Räumen geschlechterstereotype Vorstellungen und Machtverhältnisse replizieren, die es vorher auch schon gab. Durch Algorithmen und Feedback wie Likes und Kommentare werden stereotype Darstellungen in sozialen Medien höher gerankt und erfahren weitere Verbreitung.

Natürlich bieten soziale Medien aber auch eine Chance, sichtbar zu werden, wie die #MeToo-Debatte gezeigt hat. Und es verbessert die Möglichkeit, sich zu vernetzen. Gleichzeitig erfahren Aktivistinnen, die öffentlich exponiert Position beziehen, auch Backlash-Effekte. Weil sie hervortreten und damit Geschlechterstereotype oder traditionelle Vorstellungen verletzen. Es gibt immer noch so eine Art sozialen Double Bind: Männlichkeit wird eher mit dem Öffentlichen verbunden und Weiblichkeit eher mit dem Privaten.

Es ist aber nicht nur aufseiten des feministischen Aktivismus zu einer größeren Sichtbarkeit gekommen, sondern auch Parteien haben zunehmend dieses Thema besetzt und traditionelle Geschlechtervorstellungen in sozialen Medien verbreitet. Das ist eine Entwicklung, die parallel stattgefunden hat. Man spricht von einer Repolitisierung des Geschlechts, was zu einer stärkeren Polarisierung des Themas geführt hat.

STANDARD: Frauen stellen sich im Netz heute auch als vielschichtiger da. Nutzer:innen, die viele politische Inhalte einbringen, posten genauso viele Fotos von sich in unterschiedlichen Outfits. Wie würden Sie das einordnen?

Wilhelm: Hierbei spielen aufmerksamkeitsökonomische Mechanismen schon eine Rolle. Man kann auf diesen Plattformen auch andere Facetten oder Themen transportieren, die man sonst vielleicht nicht so hervorheben würde. Man kann auch eine stärkere Personalisierung vornehmen. Damit wird versucht, Nahbarkeit herzustellen. Politiker:innen nutzen soziale Medien auch so und haben die Chance, in direkten Austausch zu treten, ohne dass eine journalistische Instanz dazwischengeschaltet ist. Sie können das selbst kontrollieren, sich von einer privaten Seiten zeigen oder die eigene Geschlechterdarstellung betonen. Weibliche Politikerinnen rechtspopulistischer Parteien betonen in ihrer Social-Media-Kommunikation etwa stark die traditionelle Familie oder ihre Rolle als Mutter. Das wird auch strategisch für die Kommunikation der Parteien genutzt.

STANDARD: Österreich hat ein Paket gegen Hass im Netz geschnürt, spürbar hat sich das aber nicht auf die Qualität der Debatten in sozialen Medien ausgewirkt. Kommt man gegen die Architektur sozialer Medien an, für die Konfrontation zentral sind?

Wilhelm: Na ja, konfrontativ ist ja nicht gleich Hass. Aber wenn die Stimmung oder das Klima rauer werden, dann regt das die Debatte durchaus an, und es fördert mehr Kommentare, mehr Engagement – insbesondere bei kontroversen Themen, die die Menschen emotional bewegen. Aber das ist nicht unbedingt immer gleich Hassrede, auch wenn es eine kontroverse Diskussion ist.

STANDARD: Was wäre für weniger Hassrede in Netz wichtig?

Wilhelm: Generell wäre es besser – wie auch immer man das erreichen kann –, wenn die Zusammensetzung in den Diskussionen heterogener wäre. Wenn verhindert wird, dass Einzelne oder eine bestimmte Gruppe den Diskurs dominieren, wenn er offener, durchlässiger für andere Positionen wäre.

Vielleicht geht es manchmal auch um Aufklärung, um Transparenz, was verletzend oder inakzeptabel ist und was nicht. Da sind sich nicht alle immer im Klaren drüber, weil Hass auch in sehr subtiler Form vorkommt. Begleitend zu kontroversen Themen wären auch Informationen wichtig, was geht, was nicht geht und warum. (Beate Hausbichler, 15.11.2023)